Ich möchte Sie mitnehmen auf eine kleine Reise in die Geschichte des Heilens durch Berührung.
Shiatsu wird bis zum heutigen Tage von seinen chinesischen Wurzeln und deren Weiterentwicklung in Japan geprägt. Die wohltuende Wirkung der Hände durch Berührung ist wohl so alt wie die Menschheit selbst. Hinzu kam die Wahrnehmung der polaren Kräfte Yin und Yang, die in ihrem Wechselspiel den Fluss des Lebens bilden, sowie die Energie des Qi (chinesisch) oder Ki (japanisch).
Die Druckpunktmassage entlang spezifischer Leitbahnen (Meridiane) und auf ihnen liegender Punkte ist eine Praxis, die überwiegend in Asien zu finden ist. Ursprünglich scheint dieses Wissen in Südindien beheimatet gewesen zu sein, wo es durch spirituelle Praxis und die Ausübung einer Kampfkunst entwickelt worden ist. Durch den buddhistischen Mönch Bodhidharma ist sowohl die Lehre des Buddha als auch diese Kampfkunst und das Wissen um die Meridiane und Punkte im 5. Jahrhundert n. Chr. nach China gelangt.
In den 1970er-Jahren wurden in Mawangdui in der chinesischen Provinz Hunan Gräber aus der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 24 n. Chr.) ausgegraben und darin Manuskripte gefunden, auf denen sehr plastisch Übungsformen der damaligen Zeit abgebildet sind. Sie gleichen dem heutigen Qigong und geben Einblicke in die Vielfalt des damaligen Wissens und der Praktiken: die Lehre von Yin und Yang (z. B. die Polaritäten hell – dunkel, Tag – Nacht), des Qi und auf welchen Leitbahnen es durch den Körper fließt, Magie, Meditation, Kräuterrezepturen und vieles mehr. Diese Methoden wurden auch miteinander verknüpft.
Während dieser Periode blühte die chinesische Medizin auf, verbunden mit dem Wissen um das Meridiansystem. In der zentralchinesischen Stadt Mianyang ist eine Figur gefunden worden, die wahrscheinlich vor 118 v. Chr. in einem Grab beigelegt worden war. Sie trägt die ältesten bekannten Darstellungen von Meridianen.
Zwischen dem 6. und 10. Jahrhundert gelangten alle Aspekte der chinesischen Kultur nach Japan und wurden dort in ihrer ursprünglichen Form bewahrt, während vieles davon in China später verloren ging oder verändert wurde.
Dass sich Japan seit dem Ende des 16. Jahrhunderts schrittweise für gut zwei Jahrhunderte isolierte, führte unter anderem zu einer starken Hinwendung zum eigenen medizinischen System, das dadurch weiter verfeinert wurde. Alle Ärzte mussten eine Qualifikation in Anma, der traditionellen japanischen Massage, die dem chinesischen Tuina ähnelt, nachweisen. Die Palpation, also die Tastuntersuchung des Körpers, war eine der wichtigsten Untersuchungsmethoden.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts öffnete sich Japan auf US-amerikanischen Druck hin wieder westlichen Einflüssen, was schon bald zu einer raschen Modernisierung nach westlichen Vorbildern führte. So wurde auch das westliche medizinische Wissen begierig aufgenommen, während die traditionellen Methoden verbannt beziehungsweise in die Badehäuser verdrängt wurden. Nur die ärmere Bevölkerung sowie ein Teil der Elite bewahrten sie.
Die zentrale Figur einer neuen Bewegung zur Würdigung des japanischen Heilwissens war Tamai Tempaku, der 1919 das Buch „Shiatsu Ho“ (Die Fingerdruckmethode) veröffentlichte. Er prägte den Begriff Shiatsu und verband die althergebrachte Tradition mit einem neuen Verständnis. So betonte er zum Beispiel die Selbsterfahrung des Behandelnden als wichtigen Aspekt der Praxis. 1925 gründete sich die Vereinigung der Shiatsu-Therapeuten.
Ein bekannter Schüler Tempakus war Tokujiru Namikoshi (1905–2000). Er betonte den westlichen Einfluss auf seinen Shiatsu-Stil und tilgte alle Bezüge zu traditionellen Medizinkonzepten. Das ermöglichte die Anerkennung des Shiatsu durch die Behörden. 1940 gründete Namikoshi das Nihon Shiatsu Gakuin in Tokio, welches bis heute die einzige von der japanischen Regierung anerkannte Shiatsu-Schule ist.
Erst in den 1970er-Jahren wurde Akupunktur und auch Shiatsu in den USA populär, bekannte Lehrer wie Wataru Ohashi und Shizuto Masunaga (1925–1981) fanden immer mehr Schüler. Masunaga hatte seine Ausbildung am Shiatsu Gakuin in den 1950er-Jahren begonnen, wo er später lange als Lehrer tätig war. Gleichzeitig hielt er Vorlesungen in Psychologie an der Tokioter Universität.
Eine Shiatsu-Theorie hat in der japanischen Medizin nie eine große Rolle gespielt. Der Grund dafür liegt in der Einheit von Diagnose und Behandlung. Durch lange Erfahrung kann eine Shiatsu-Praktikerin oder ein Shiatsu-Praktiker vom gesunden Zustand abweichende Muster im Körper erspüren und entscheiden, was zu tun ist.
Masunaga hat seinen Shiatsu-Stil Zen-Shiatsu genannt. Dafür hat er das alte Wissen von Yin und Yang, vom Fluss der Lebensenergie Ki und die Theorie der fünf Elemente, besser bekannt als die fünf Wandlungsphasen, mit der westlichen Medizin und der westlichen Psychologie verbunden. Masunaga hatte schon lange die praktischen Aspekte des Zen ausgearbeitet, bevor er diese Theorie entwickelte und schließlich kurz vor seinem Tod 1981 vollendete. Viele bekannte Shiatsu-Lehrerinnen und -Lehrer nutzten seine Entdeckungen als Grundlage für ihren eigenen Stil.
In Deutschland verbreitete sich Shiatsu vor allem durch Dr. Wilfried Rappenegger. Er arbeitete als Internist, als er mit Shiatsu in Berührung kam. In den 1980er-Jahren gründetet er seine Schule für Shiatsu in Hamburg. Seit dieser Zeit ist Shiatsu als eigenständige Therapieform in Kliniken, ambulanten Einrichtungen und darauf spezialisierten Praxen verbreitet.
Diese Darstellung beruht auf dem zweiten Kapitel, „Geschichte des Shiatsu“, in: Carola Beresford-Cooke: „Shiatsu – Grundlagen und Praxis“, Urban und Fischer 2013, 3. Auflage.